Fürchtet
euch, Mütter von Latium, und sperrt eure Töchter weg (auch die
Krampen), denn der listenreiche Europäer aus Hornstein fällt über euer
Arkadien her wie eine Zikade. Ich lande verspätet in Paliano, meinem
Monats-Ithaca, denn ich finde nicht hinein: Ein riesiger Zaun umgürtet
das Areal, das ich nicht als solches erkenne, weil von einem Zaun und
einem verschlossenen Portal in meinen Seekarten keine Rede war. Daher
umschiffe ich das Gebiet ortsunkundig und füge dem grünen Heck meiner
Argo an einer scharfen Klippe erheblichen Schaden zu. Weil die Sterne
schweigen und mir auch mein Sextant nichts mehr nützt, rette ich mich
auf einer letzten ersterbenden Brise ins Luv und stehe erneut vor dem
Zaun und dem Portal. Ein plötzlich erscheinender Kutter mit der
Aufschrift Enrico hebt stumm ein Paddel zum Gruß, und
einer an Bord ruft dem Wachmann etwas zu, woraufhin dieser die
Durchfahrt endlich freigibt. Ich werfe den Flautenschieber an und
erreiche erschöpft mein Ziel, in der Hoffnung auf die reichhaltige Kost
eines spendablen Smutjes und die köstlichen Salben einer nachsichtigen
Nausikaa. – Mir kommt das Bonmot einer alten Frau in Erinnerung
(vermutlich das erste und einzige ihres Lebens). Es fiel, als ich
Sternsinger war und in meiner Melchior-Bemalung aussah wie ein Idiot;
aber der fette Nachbarsbub hätte sich auf mich gesetzt und seine
Schwester meinen Schädel mit ihren spitzen Stöckeln malträtiert, hätte
ich lieber Caspar oder Balthasar sein wollen. Damals stand ich vor der
Alten, der Lächerlichkeit schon längst preisgegeben, und bat um ein
bisschen Bares, Almosen für die desolate Hornsteiner Gemeinde. Das Herz schlägt fürs Werk, entgegnete sie, und gab mir kein Geld. Padauz,
die erste Nacht ist durchwacht auf einem Bett, das diesen Namen nicht
verdient. Ich denke an die Grabinschrift Ovids und werde eifersüchtig,
da dessen Glieder wenigstens weich ruhen. Meine Begleitung hat es
besser, denn ich habe sie in einem erstklassigen Hafen untergebracht,
der allerdings viel weiter entfernt ist, als meine Seekarten es
behaupten. Ich steige in die Nasszelle und muss feststellen, dass man
hier in der tiefen römischen Provinz Latium die Duschkabinen in erster
Linie für Liliputaner konzipiert oder für jene, die es noch werden
wollen. Von und mit kapriziösen Verrenkungen versuche ich mich zu
reinigen, was dazu führt, dass ich beinahe einen Salto mortale mache,
nur um meinen Allerwertesten waschen zu können. Das Wasser ist
unsäglich kalt, sodass ich mich nur deshalb noch als Mann erkenne, weil
ich weiß, dass ich einer bin. Ein welsches Pärchen aus der fernen
Provinz Rätien ist anwesend, obwohl es eigentlich schon seit den
Kalenden des Monats September verschwunden sein müsste. Mit der
üblichen rachitischen Intonation des Phonems „k“ flehen sie um meine
Erlaubnis, sich doch noch ein wenig länger aushalten lassen zu dürfen.
Ich fühle mich gut, weil überlegen, und gestatte es ihnen jovial. Als
ich, von so viel unverhoffter Autorität angenehm geschwängert, mich zur
Erleichterung auf den Locus locomotus begebe, merke ich, wie dünn die
Wände sind: Wie Pyramus einst könnte ich mich durch die Klowand
hindurch mit meiner Kollegin aus der Provinz Vindobona verständigen,
nur dass ich stattdessen schweige und mich auf das konzentriere, was
Thisbe hinter der Wand lautstark mit sich selbst anstellt. Meine
Kemenate ist wohlig, aber sie lässt sich nicht verriegeln; wer erwartet
hier schon Privatsphäre? Wieder fallen mir die Sternsinger ein und wie
mich der fette Nachbarsbub, der übrigens auch als Weihnachtsmann
fungierte und regelmäßig seinen Bart fraß, mit einem nassen Fetzen
verprügelte und seine Schwester mir vorhielt, ich sei Sternsinger nur
des Geldes wegen. In Wahrheit wollte ich lediglich immer schon Melchior
sein – denn das Herz schlägt fürs Werk. Inzwischen
ist mein Landsmann aus der Provinz Pannonien eingetroffen, ein Maler
und Poet mit göttlichem Pinselstrich und Händen wie Pygmalion. Wir
verstehen beide kein Italienisch und begegnen den Einheimischen mit
dementsprechend babelhafter Sprachskepsis; auch über den Umstand, dass
in Latium niemand der angelsächsischen Lingua franca mächtig ist,
bleiben meine Seekarten stumm. Hätte ich es gewusst, ich hätte mir
zumindest italienische Rudimente angeeignet. Aber wir ergeben uns
unserem Dasein als Kartäuser, und um nicht in die gefürchtete
mönchische Acedia zu verfallen, den maliziösen geistigen Dekubitus,
lauschen wir bis fünf Uhr fünf einer britannischen Bardin, leeren fünf
Flaschen Wein und klären indirekt die Frage, ob nicht doch Gavrilo
Princip der Mann des Jahrhunderts war. Am nächsten Morgen werde ich
durch lautes, schepperndes Italienisch geweckt – es spricht der
Hausmeister, ein Nazarener. Mit zitternden Gliedern stehe ich vor ihm,
und seine Worte, die ich ohnehin nicht verstehe, prallen ab an meiner
Apathie. Hier bemüht sich keiner, die Fremden zu verstehen, jedoch ist
das Fremde eine Form der Eigenheit, und die Lust am Eigenen soll
bewahrt werden. Die Stimme des Nazareners verhallt innerlich, ähnlich
wie die von Margarete, als sie ein letztes Mal, eigensinnig gedoppelt,
Fausts Vornamen ruft. Nun selbst erstarrt zu einer Säule des
Unverständnisses, suche ich den schönen Hügel hinter dem Haus auf und
beobachte, wie Hegel, einen herrlichen Sonnenaufgang. Die Pinienhaine,
die pittoresken umliegenden Dörfer, herrlich unerhört auf Bergrücken
gelegen, neutralisieren mich, und ich stecke meinen Schädel in die
trockene Erde wie ein ratloser Strauß. Ich muss feststellen, dass ich
mich mit dem Maulwurf gut unterhalten kann, oder er zumindest so tut,
als verstünde er mich. Einmal mehr denke ich an die Sternsinger, an den
fetten Nachbarsbuben, der mich damals eben um fünf Uhr fünf aus dem
Bett läutete und mich mit einem Fausthieb in die Magengrube aus Somnos’
Armen löste, als ich beim Pfarrer kurz eingeschlafen war. Seine
Schwester trat mir noch am selben Tag in die Hoden und spuckte in mein
schmerzverzerrtes Gesicht, weil ich ihr in der Mittagspause die Sicht
auf den Fernseher versperrte. Das Herz schlägt fürs Werk, sagte sie drohend, während sie das bis dahin eingenommene Geld zählte. Nachdem
das rätische Pärchen fast eine Woche lang spurlos verschwunden war,
wird es völlig unvermittelt wieder an Land gespült, nur um am nächsten
Tag wieder abzureisen – endgültig. An ewige Fluktuation und Pythagoras
erinnert, bin ich steinerner Gast einer ergreifenden
Abschiedszeremonie. Am Abend vorher war der männliche Part des Paares
noch am Kombüsenfenster gestanden und hatte durch das Fliegengitter in
die dichte Nacht gestarrt; ein apodiktisches Kein Plan
war das einzige, was er hervorbrachte. Wie eine perfekte Stichomythie
aus einem klassischen Drama erschien mir da die Antwort meines
pannonischen Landsmannes: Et tu, Brute! – Die
abendliche Einsamkeit ist wieder eingekehrt, und ehe wir uns zur
Komplet versammeln, möchte ich mir ein Mahl im Backrohr zubereiten.
Doch es ist mit einem braunen Pflaster versiegelt, und wie ein herbes
Menetekel trifft mich die Schrift des Nazareners, deutlich auf dem
Pflaster wie die Flammenlettern an Belsatzars Wänden: FORNO NON FUNZIO
NA .
RECOLARE steht da in überdimensionalen Buchstaben, und nach erfolglosen
etymologischen und graphologischen Bemühungen muss ich entnervt
aufgeben – das Verb recolare existiert nicht. Da ich
dem Nazarener keine Rechtschreibfehler zutraue, gehe ich von einer
Arkanbotschaft aus, die durch den rätselhaft um den Satz kreisenden
Punkt noch um eine Dimension erweitert wird; sofort denke ich an den
barocken Lyriker und Theosophen Angelus Silesius (obwohl dem Nazarener
das Mittelalter eigentlich besser zu Gesicht stünde) und dessen Kreiß im Puncte: Ich bin wie GOtt und GOtt wie ich
– ist es das, was uns der Nazarener mitteilen will? Mit der letzten
Kraft meines Geistes wehre ich mich gegen die Erinnerung an die
Sternsinger, aber sie kommt über mich wie die Nacht über die Welt und
Paliano: Nach einem mehr oder minder erfolgreichen Tag des pekuniären
Menschenfischens setzte sich der fette Nachbarsbub, dieser Ecce homo,
auf das Schaukelpferd am Spielplatz, begann seine ganze kritische Masse
in Bewegung zu setzen und sah, wild auf der Stelle reitend,
tragikomisch aus wie Richard der Dritte. Ich bin der König von Hornstein,
brüllte er mit sich überschlagender Fistelstimme, hob seinen dicken Arm
und schaukelte in der kulminierenden Erregung eines Thyrsusschwingers.
Plötzlich riss die Feder, die das Pferd sowohl bewegte, als auch in den
Fugen hielt, und der fette Nachbar trat einen halsbrecherischen
Walkürenritt an, der ihn zunächst etwa fünf Meter weit führte, dann
aber auf dem unfreundlich harten Boden ein jähes Ende fand. Nach
einigen Überschlägen landete der Dicke rücklings im Dickicht, streckte
Arme und Beine von sich und ließ ein leises, hündisches Klagen
vernehmen (während des Rittes war es eher ein zagendes Fiepen gewesen).
Das Herz schlägt fürs Werk, sagte ich, noch immer in
Melchior-Bemalung, denn sie hatten mir nicht gestattet, mich
abzuschminken. Ohne ein Wort donnerte mir die Schwester des Nachbarn
ihre Faust ins Maul, ich strauchelte, fiel und schlug mir den Kopf am
friedlich grinsenden Schaukelpferd. So dämmerte ich weg, und als ich
aufwachte, war ich hungrig. Um
Essen zu fassen steche ich in See, mit Colleferro als Ziel, der
nächsten größeren befestigten Anlage. Ein Lokal ist schnell gefunden,
doch auch hier kann ich mich nicht verständlich machen. Wild
gestikulierend, händeringend und mit den Augen kullernd muss ich
aussehen wie ein aufdringlicher Skaramuz, aber der rabenschwarzhaarigen
Ragazza, die die Bestellung aufnimmt, komme ich eher vor wie ein
Troglodyt. Nachdem die Feuerzungen ausbleiben, wähle ich das
Missverständnis und bedeute der Ragazza mit primitivsten Gesten, dass
mir egal ist, was sie mir zu Essen bringt. Da es nur eine Biersorte
gibt, nämlich Moretti, muss ich auch diesbezüglich nicht lange überlegen (trotz der grässlichen Implikationen, die der Name Moretti innehat). Nach einer riesigen Portion ekelhaftesten Fleisches und sechs Morettis
habe ich keinerlei Probleme mehr mit dem Italienischen, ich pfeife die
Ragazza zu mir und erzähle ihr von meinem kleinen Garten und den
Büchern über Gartenarbeit, die ich mit großem Interesse lese, den
vielen hundert Tomaten, die ich heuer schon geerntet und unter meiner
gesamten Verwandtschaft aufgeteilt habe, sodass die Verwandtschaft
schon nicht mehr weiß, wohin mit den Tomaten und ihnen die Tomaten
buchstäblich schon beim Arsch hinauslugen, dass der erste Satz meines
Cousins ein Lob der Suppe meiner Oma war, und dass ich heute sicherlich
auch ein Lob über die Suppe ausgesprochen hätte, wenn es in diesem
Lokal denn so etwas wie Suppe gäbe. Inzwischen ist die Ragazza immer
schöner geworden, sie bezeichnet mich als Giovane piacevole, der obendrein aussieht wie ein tipo romano-ellenico, und verrät ihren Namen: Brunhilda.
Da ist es um mich geschehen, ich sehe mich wie der Burgundenkönig
Gunther mit blutunterlaufenen Augen an einem Nagel in Brunhildas
Schlafzimmerwand hängen, und stürze aus dem Lokal. Ich verspüre
Sehnsucht nach meiner, ebenfalls schwarzhaarigen, Stummfilmkünstlerin,
die nun sicher nicht zu Hause sitzt und auf mich wartet – da kommt mir
Storm in den Sinn, „… zu keinem Glück bedarfst du mein …“, und die
Sternsinger: Das Werk war endlich vollbracht, ich
spürte meinen gebläuten und geschwollenen Leib schon nicht mehr, und
wir standen vorm Pfarrer, um ihm das eingenommene Geld zu übergeben,
erst Caspar und seine Schwester Balthasar, dann: Melchior, oder was
noch von mir übrig war. Der fette Nachbar und seine Schwester
reüssierten mit einem (verglichen mit der kurzen Dienstzeit)
exorbitanten Gewinn, ich hingegen legte nur ein paar Münzen auf die
Bibel. Da strich mir der Pfarrer zärtlich durchs Haar und führte mich
in die Sakristei. Fortwährend repetierte er rosenkranzartig: Das Herz schlägt fürs Werk. Wieder
im Lager angekommen, erblicke ich einen kleinen schwarzen Skorpion in
meiner Kajüte. Aufgrund meiner völligen Ahnungslosigkeit im Umgang mit
Skorpionen fange ich ihn mit einem Glas ein, doch dieser hermetische
Kerker behagt dem unsympathischen Eindringling nicht, und als ich das
Glas umstülpe, entspringt der Finsterling mit einem wagemutigen Satz
unter die Kommode. Während dieser Unterweltfahrt rasselt er
unaufhörlich mit seinen Scheren wie Prometheus mit den Ketten, und in
Todesangst wende ich mich an meinen pannonischen Landsmann – er lacht
nur und meint, diese Skorpionin sei völlig harmlos, sie sei sogar an
mir interessiert und wolle mich nur ein wenig necken. Da ziehe ich die
Unsicherheit selbst in Zweifel und frage mich, was mich eher Wunder
nimmt: das Fak(tot)um eines schwarzen Skorpions unter meiner Kommode
oder der gendertheoretische Ansatz meines Landsmannes. Ich entscheide
mich für den Mittelweg und töte den Skorpion mit meinem Schuh, nachdem
ich ihn, auf dem Boden liegend, mit einem Blatt Papier aggressiv
gemacht und zum Sturmlauf auf meine Person gezwungen habe – das Böse
wird durch eine ebenso böse Maßnahme nivelliert und stellt sich dadurch
selbst in Frage. Ein Dreischrittmodell wie aus einem Lehrbuch des
deutschen Idealismus, obschon ich mich nicht in der Lage sehe, das
Geschlecht des Skorpions festzustellen, aber ich denke an Brunhilda,
und plötzlich interessiert’s mich nicht mehr. Mein Landsmann, ein
profunder Kenner von Skorpionfrauen, insistiert auf der Weiblichkeit
des Tieres, und tatsächlich küsst ihn die Muse: In den nächsten Tagen
kreiert er, vom Vorfall inspiriert, eine atemberaubende Kohlezeichnung
– beim Betrachten des Bildes ergeht es mir wie Kleist mit Caspar David
Friedrich, meine Wahrnehmung wird benebelt und gleichzeitig gespitzt
von der Reichhaltigkeit der Darstellung, deren apollinische Komponente
ich zuerst erkenne: einen riesigen Skorpion, der einen winzigen
Artgenossen schützend umfängt; nicht etwa mit seinen Scheren, denn er
hat gar keine, aber zwei warme, menschliche Hände bergen den Leib des
Kleinen, kosend und rührend wirkt er auf mich wie eine Pietà. Da, beim
zweiten und dionysischen Blick auf das nahezu fohlenhafte, embryonale,
stachellose Skorpionchen erkenne ich meinen androgynen
Skorpion: der Landsmann hat dessen leblosen Körper auf das Bild
gepappt, aber es gibt keine Trennlinien mehr zwischen biologischer und
künstlerischer Realität, die Zeichnung ist ein organisches Yin und Yang
geworden, das jegliche Theorie über die Grenzen der Malerei ad absurdum
führt. Die Zeichnung wird lebendig, und nicht überzogen werden vom
Firnis der musealen Ewigkeit. Sie macht mich zum stolzen Mörder. Und
da endet eine Reise, und es beginnt schon wieder eine neue: Ich segle
zum Tor hinaus aufs offene Meer und drehe mich noch einmal nach der
Festung Paliano um. Mir ist, als erblickte ich auf einem der Felsen Herzeloyde,
Parzivals Mutter, die ihren Sohn angefleht hat, doch noch ein wenig
länger in der Einöde zu bleiben und nicht das verhasste Rittertum zu
suchen. Doch Parzival hat seinen Kopf durchgesetzt und ist damit durch
die Wand oder, wie sein altfranzösischer Name schon sagt, „durch dieses
Tal“ gelaufen. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich seine Mutter
in der Ferne stehen sehe, sterben sehe, an gebrochenem Herzen. Und
da endet eine Reise und wird zur Erinnerung: Wann immer mir schwere
Stunden schlagen und mich dunkle Freunde besuchen, denke ich an die
Zeit in Paliano und tröste mich damit, dass damals mein Herz schon
lebte und nicht mehr nur fürs Werk schlug.
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